Boris-Romantschenko-Straße

Die Boris-Romantschenko-Straße ist eine Anliegerstraße in der Leipziger Nord­vorstadt. Sie hieß von 1914 bis 2023 Turmgutstraße, liegt auf dem Flur­stück 4288 der Gemarkung Leipzig und hat den amtlichen Straßen­schlüssel 07060.

Verlauf

Stadtplanausschnitt 2023
© OpenStreetMap (26.09.2023)

Die 126 Meter(!) lange Straße beginnt an der Primavesi­straße (gegenüber dem Turmgut­steg, der über die Parthe in das Rosental führt) und verläuft gerad­linig und kreuzungs­frei in nördliche Richtung. Schließlich endet sie an einer platz­artigen Erweiterung des Poeten­wegs, in die auch die Straße Kickerlings­berg mündet. Auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes befindet sich das Gohliser Schlöss­chen. – Die gerad­zahlige Haus­nummer 2 befindet sich auf der östlichen Straßen­seite, die beiden ungerad­zahligen Nummern 1 und 3 gegen­über.

Geschichte

Ursprünglich befand sich hier die Winkel­wiese der Gemeinde Gohlis, die in einer Fluss­schleife der Parthe lag (wobei der Fluss hier bis in die 1950er Jahre als »Pleiße« be­zeichnet wurde). Die alte Stadtgrenze folgte genau dem Verlauf des Flusses. Nachdem die Fluss­schleife 1903?/1904 begradigt wurde, blieb die Flurgrenze noch einige Zeit in dieser Lage, wurde dann aber verlegt: nicht etwa in die Mitte des neuen Fluss­verlaufs, sondern (erst­mals auf einem Stadtplan 1913) hinter den Poeten­weg. Seitdem liegen die Grund­stücke zwischen Parthe und Poeten­weg auf Leipziger Flur.

Stadtplanausschnitt 1902
1902
Stadtplanausschnitt 1908
1908
Stadtplanausschnitt 1913
1913

Die Straße wurde im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angelegt. Dabei folgt sie genau der Flucht der viel älteren Herren­allee im Rosen­tal, die ihrer­seits schon auf das Gohliser Schlöss­chen aus­gerichtet war.

Historisches Schriftbild
Das Stichwort in gebrochener Schrift

Am 15. Juli 1914 wurde be­schlossen, der im Bebauungsplan »Leipzig-Goh­lis—‌Süd«1) als »Straße 4« bezeichneten Straße den Namen Turmgut­straße zu geben. Dies wurde am 15. Au­gust 1914 bekannt gegeben (vgl. Bekanntmachung im Leipziger Tageblatt vom 16.08.1914, S. 6). – Mit der Benennung wurde auf das Grund­stück des Gohliser Schlöss­chens Bezug genommen, das als »Turm­gut« bezeichnet wurde, da sich hier bis zum Kirchbau der einzige Turm von Gohlis befand. Die naheliegende Bezeichnung »Schloß­gut« war irreführend, weil hiermit in vielen Orten das Rittergut gemeint war. In Gohlis wurde das Schloss aber nicht auf dem Rittergut errichtet, sondern auf ehemaligen Bauerngütern. – Nachdem aber die Gohliser Kirche mit ihrem viel höheren Turm errichtet war und das eigentliche Rittergut Gohlis seine Bedeutung verloren hatte, wurde das Grundstück des Gohliser Schlösschens als »Schloß­gut« bezeichnet und der alte Name »Turmgut« wurde verdrängt.

Auszug aus dem Leipziger Adressbuch 1949
Letztes Adressbuch 1949

Die Bebauung begann nur zögerlich: die Villa mit der Hausnummer 1 erscheint erstmals im Leipziger Adreß­buch 1927 (Eigentümer: I.G. Farben­industrie A.G., Bitter­feld), die beiden anderen Grundstücke sind in den Adress­büchern bis einschließlich 1943 noch un­bebaut. – In den Leipziger Adressbüchern wurde die Straße stets als Teil der Äußeren Nordvorstadt (AN) genannt.

Bei der Einführung der Kommunalen Gliederung zum 18. März 1992 wurde die noch immer in der Nordvorstadt liegende Turmgut­straße dem statistischen Bezirk 908 im Orts­teil 90 Gohlis-Süd zugeordnet.

Seit dem 1. Juli 1993 gehört die Straße zum Postleitbezirk 04155 Leipzig (vorher seit 1926 Leipzig N22, seit 1965 7022 Leipzig).

Umbenennung

In der Villa Turmgutstraße 1 befand sich seit 2005 das General­konsulat der Russischen Föderation in Leipzig. Dadurch wurde der Straßen­name nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 zum Gegenstand einer bisher beispiel­losen2) politischen Umbenennung.

Eine Petition aus dem Mai 2022, die Turmgut­straße in »Selenskyjstraße« umzubenennen (nach dem Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, * 1978), scheiterte mit Verweis auf die Praxis, Straßen nicht nach lebenden Personen zu benennen.3)

Am 9. November 2022 wurde beschlossen,4) die Turmgut­straße in Boris-Roman­tschenko-Straße5) umzubenennen. Damit soll an den ukrainischen Ingenieur Borys Tymo­f‌i­jo­wytsch Romantschenko (1926–2022) erinnert werden. Er überlebte vier deutsche Kon­zen­trations­lager, war Vize­präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und wurde von russischen Bomben getötet.

Der Beschluss wurde am 3. Dezember 2022 im Leipziger Amtsblatt verkündet, womit eine einmonatige Widerspruchs­frist begann. – Während das Leipziger Amtsblatt vom 14. Januar 2023 über die Bestandskraft der ebenfalls am 9.11.2022 beschlossenen Benennungen der Clara-Jaschke-Brücke und der Karl-Kieckhefen-Straße informierte, findet sich dort keine Spur von der Umbenennung der Turmgut­straße. Auch in den folgenden (ge­druckten oder elektronischen) Amts­blättern bis einschließlich 17. Juni 2023 wurde nicht über die Wirksamkeit der Um­benennung informiert. Stattdessen wurde im Leipziger Amts­blatt vom 11. Februar 2023 erneut der Beschluss (mit falschem Datum »09.11.2023«) bekannt gemacht, auf die Wider­spruchsfrist ab Bekannt­gabe hingewiesen und ge­schrieben, dass »diese Allgemein­verfügung« am 19.02.2023 als bekannt gegeben gilt.

Am 31. Mai 2023 wurde bekannt, dass das General­konsulat der Russischen Föderation in Leipzig zum Jahres­ende 2023 geschlossen wird.

Auszug aus dem Amtsblatt Leipziger Elektronisches Amtsblatt Nr. 13/2023 vom 24.06.2023, S. 6

Am 24. Juni 2023 teilte das elektronische Amts­blatt mit, dass der Beschluss zur Um­benennung der Turmgut­straße in Boris-Romantschenko-Straße seit dem 22. Mai 2023 Bestandskraft hat. – Warum diese Bekannt­gabe fast fünf Wochen später er­folgte (in­zwischen erschienen zwei ge­druckte und zwei elektronische Amtsblätter), bleibt unklar. Welchen Wert hat eine Bestands­kraft, von der niemand weiß? Sollte vielleicht nachträglich ein direkter zeitlicher Zusammen­hang zwischen der Umbenennung der Straße und der Schließung des General­konsulats konstruiert werden?

Am 1. August 2023 wurden dann auch die Straßen­schilder aus­getauscht. Auf die Praxis, zur besseren Orientierung für eine Übergangs­zeit auch die alten Straßen­schilder (mit einem roten Schräg­strich ent­wertet) zu belassen, wurde diesmal verzichtet. – Auf dem amtlichen Stadtplan heißt die Straße auch am 9. Oktober 2023 noch »Turmgut­straße«!

Quellen und Literatur

 1) Der Name des Bebauungsplans zeigt deutlich, dass er noch aus einer Zeit stammt, zu der das Gebiet zu Gohlis gehörte (schon der Stadtplan von 1902 zeigt das vorgesehene Straßen­raster). Mit dem 1992 er­fundenen Ortsteil »Gohlis-Süd« hat das nichts zu tun.
 2) Politische Umbenennungen gab es in Leipzig viele: beginnend 1933, inflationär 1945–1953, und wieder auf‌­lebend seit 1990. Dass jedoch ein Straßen­name geändert wird, um »symbol­trächtige Zeichen« gegen einen An­rainer zu setzen, ist neu.
 3) In der Tat eine Zumutung! In Leipzig wurden seit dem Ende des Kaiserreichs nur drei Straßen nach lebenden Politikern benannt: 1930 nach Hindenburg, 1933 nach Hitler und 1949 nach Stalin. Wollte man Selenskyj wirklich in diese Reihe stellen?
 4) mit 33 Ja-Stimmen (inklusive der des Ober­bürger­meisters), 17 Nein-Stimmen und 3 Ent­haltungen. Eine Petition von Anwohnern gegen die Umbenennung wurde ignoriert. Die Abweisung anderer Petitionen, statt der Turmgut­straße doch die Shukow­straße umzubenennen, zeigt deutlich, dass es überhaupt nicht um die Ehrung einer Person ging, sondern um eine unfreundliche Aktion gegen das General­konsulat.
 5) Eigenartigerweise entschied man sich für die russische Schreibweise »Boris« des Vornamens »Borys«.