Boris-Romantschenko-Straße
Die Boris-Romantschenko-Straße ist eine Anliegerstraße in der Leipziger Nordvorstadt. Sie hieß von 1914 bis 2023 Turmgutstraße, liegt auf dem Flurstück 4288 der Gemarkung Leipzig und hat den amtlichen Straßenschlüssel 07060.
Verlauf
Die 126 Meter(!) lange Straße beginnt an der Primavesistraße (gegenüber dem Turmgutsteg, der über die Parthe in das Rosental führt) und verläuft geradlinig und kreuzungsfrei in nördliche Richtung. Schließlich endet sie an einer platzartigen Erweiterung des Poetenwegs, in die auch die Straße Kickerlingsberg mündet. Auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes befindet sich das Gohliser Schlösschen. – Die geradzahlige Hausnummer 2 befindet sich auf der östlichen Straßenseite, die beiden ungeradzahligen Nummern 1 und 3 gegenüber.
Geschichte
Ursprünglich befand sich hier die Winkelwiese der Gemeinde Gohlis, die in einer Flussschleife der Parthe lag (wobei der Fluss hier bis in die 1950er Jahre als »Pleiße« bezeichnet wurde). Die alte Stadtgrenze folgte genau dem Verlauf des Flusses. Nachdem die Flussschleife 1903?/1904 begradigt wurde, blieb die Flurgrenze noch einige Zeit in dieser Lage, wurde dann aber verlegt: nicht etwa in die Mitte des neuen Flussverlaufs, sondern (erstmals auf einem Stadtplan 1913) hinter den Poetenweg. Seitdem liegen die Grundstücke zwischen Parthe und Poetenweg auf Leipziger Flur.
1902
1908
1913
Die Straße wurde im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angelegt. Dabei folgt sie genau der Flucht der viel älteren Herrenallee im Rosental, die ihrerseits schon auf das Gohliser Schlösschen ausgerichtet war.
Am 15. Juli 1914 wurde beschlossen, der im Bebauungsplan »Leipzig-Gohlis—Süd«1) als »Straße 4« bezeichneten Straße den Namen Turmgutstraße zu geben. Dies wurde am 15. August 1914 bekannt gegeben (vgl. Bekanntmachung im Leipziger Tageblatt vom 16.08.1914, S. 6). – Mit der Benennung wurde auf das Grundstück des Gohliser Schlösschens Bezug genommen, das als »Turmgut« bezeichnet wurde, da sich hier bis zum Kirchbau der einzige Turm von Gohlis befand. Die naheliegende Bezeichnung »Schloßgut« war irreführend, weil hiermit in vielen Orten das Rittergut gemeint war. In Gohlis wurde das Schloss aber nicht auf dem Rittergut errichtet, sondern auf ehemaligen Bauerngütern. – Nachdem aber die Gohliser Kirche mit ihrem viel höheren Turm errichtet war und das eigentliche Rittergut Gohlis seine Bedeutung verloren hatte, wurde das Grundstück des Gohliser Schlösschens als »Schloßgut« bezeichnet und der alte Name »Turmgut« wurde verdrängt.
Die Bebauung begann nur zögerlich: die Villa mit der Hausnummer 1 erscheint erstmals im Leipziger Adreßbuch 1927 (Eigentümer: I.G. Farbenindustrie A.G., Bitterfeld), die beiden anderen Grundstücke sind in den Adressbüchern bis einschließlich 1943 noch unbebaut. – In den Leipziger Adressbüchern wurde die Straße stets als Teil der Äußeren Nordvorstadt (AN) genannt.
Bei der Einführung der Kommunalen Gliederung zum 18. März 1992 wurde die noch immer in der Nordvorstadt liegende Turmgutstraße dem statistischen Bezirk 908 im Ortsteil 90 Gohlis-Süd zugeordnet.
Seit dem 1. Juli 1993 gehört die Straße zum Postleitbezirk 04155 Leipzig (vorher seit 1926 Leipzig N22, seit 1965 7022 Leipzig).
Umbenennung
In der Villa Turmgutstraße 1 befand sich seit 2005 das Generalkonsulat der Russischen Föderation in Leipzig. Dadurch wurde der Straßenname nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 zum Gegenstand einer bisher beispiellosen2) politischen Umbenennung.
Eine Petition aus dem Mai 2022, die Turmgutstraße in »Selenskyjstraße« umzubenennen (nach dem Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, * 1978), scheiterte mit Verweis auf die Praxis, Straßen nicht nach lebenden Personen zu benennen.3)
Am 9. November 2022 wurde beschlossen,4) die Turmgutstraße in Boris-Romantschenko-Straße5) umzubenennen. Damit soll an den ukrainischen Ingenieur Borys Tymofijowytsch Romantschenko (1926–2022) erinnert werden. Er überlebte vier deutsche Konzentrationslager, war Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und wurde von russischen Bomben getötet.
Der Beschluss wurde am 3. Dezember 2022 im Leipziger Amtsblatt verkündet, womit eine einmonatige Widerspruchsfrist begann. – Während das Leipziger Amtsblatt vom 14. Januar 2023 über die Bestandskraft der ebenfalls am 9.11.2022 beschlossenen Benennungen der Clara-Jaschke-Brücke und der Karl-Kieckhefen-Straße informierte, findet sich dort keine Spur von der Umbenennung der Turmgutstraße. Auch in den folgenden (gedruckten oder elektronischen) Amtsblättern bis einschließlich 17. Juni 2023 wurde nicht über die Wirksamkeit der Umbenennung informiert. Stattdessen wurde im Leipziger Amtsblatt vom 11. Februar 2023 erneut der Beschluss (mit falschem Datum »09.11.2023«) bekannt gemacht, auf die Widerspruchsfrist ab Bekanntgabe hingewiesen und geschrieben, dass »diese Allgemeinverfügung« am 19.02.2023 als bekannt gegeben gilt.
Am 31. Mai 2023 wurde bekannt, dass das Generalkonsulat der Russischen Föderation in Leipzig zum Jahresende 2023 geschlossen wird.
Am 24. Juni 2023 teilte das elektronische Amtsblatt mit, dass der Beschluss zur Umbenennung der Turmgutstraße in Boris-Romantschenko-Straße seit dem 22. Mai 2023 Bestandskraft hat. – Warum diese Bekanntgabe fast fünf Wochen später erfolgte (inzwischen erschienen zwei gedruckte und zwei elektronische Amtsblätter), bleibt unklar. Welchen Wert hat eine Bestandskraft, von der niemand weiß? Sollte vielleicht nachträglich ein direkter zeitlicher Zusammenhang zwischen der Umbenennung der Straße und der Schließung des Generalkonsulats konstruiert werden?
Am 1. August 2023 wurden dann auch die Straßenschilder ausgetauscht. Auf die Praxis, zur besseren Orientierung für eine Übergangszeit auch die alten Straßenschilder (mit einem roten Schrägstrich entwertet) zu belassen, wurde diesmal verzichtet. – Auf dem amtlichen Stadtplan heißt die Straße auch am 9. Oktober 2023 noch »Turmgutstraße«!
Quellen und Literatur
- Hötzel, Manfred; Kürschner, Dieter: Straßennamen in Gohlis. Geschichte und Erläuterung. Leipzig 2001. (Gohliser Historische Hefte, 6), S. 88
- Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen (Hrsg.): Verzeichnis Leipziger Straßennamen. PDF, Redaktionsschluss Dezember 2018. Ohne Ort, ohne Jahr, ohne Seitenzählung. Seite [2732] – Hier wird der falsche Eindruck erweckt, der Name »Turmgut« sei älter als das Gohliser Schlösschen.